Zurück
         
Ende und Anfang
by LeAnn


Heute war der Tag, der Tag seiner Beerdigung.
Wie fühlt man sich am Tag seiner Beerdigung - wenn man noch quicklebendig ist?
Oder eben auch nicht, denn Jack Bauer war tot.
Und Frank Flynn?
Jack verlagerte sein Gewicht und lehnte sich mit dem Rücken an den Felsen. Die Hitze flimmerte über der weiten Landschaft. Er saß im Schatten, am Rande der Wüste, ein einsamer Platz, der dem Ereignis angemessen schien. Tony hatte angerufen, sobald das Datum seiner Beerdigung festgesetzt worden war. Sie hatten abgemacht nur im Notfall zu telefonieren, aber dieses Ereignis zumindest erschien wichtig genug, um eine Ausnahme zu machen.
Jack starrte auf sein Handy, das auf seinem Oberschenkel lag. Tony wollte ihm ein Foto schicken, ein Foto von Kim, und Jack wusste, es würde zu gefährlich sein, das Bild zu behalten, aber zumindest einmal sehen wollte er sie noch.
Er lehnte seinen Kopf zurück an den Felsen und schloss die Augen. Weit über sich hörte er den heiseren Schrei eines Raubvogels, der sich von den Aufwinden hoch in die Luft tragen ließ. Es war bereits 11 Uhr, nicht mehr lange, und sein Sarg würde hinuntergelassen, direkt neben Teri würde er liegen, dann würde Erde darüber geschüttet werden.
Wer lag in dem Sarg? Wie hatten Tony, Michelle und Chloe es geschafft, einen anderen Toten für ihn auszugeben?
Und Kim? Aus Tonys Worten hatte er herausgehört, dass sie bei der Nachricht seines Todes zusammengebrochen war und unter Beruhigungsmitteln stand. Kim. Wie konnte er das alles Kim antun?
Aber welchen Unterschied machte es, ob er an die Chinesen ausgeliefert worden wäre oder nun als tot galt? Er hatte eine lebhafte Vorstellung davon, was die Chinesen mit ihm getan hätten, wäre er ausgeliefert worden – aber er wäre ja wahrscheinlich überhaupt nicht in ihre Hände gelangt sondern vorher vom Secret Service erledigt worden, damit er nicht unter der Folter Geheimnisse preisgeben konnte.
Die Regierung hatte manchmal eine merkwürdige Art für geleistete Dienste zu danken. Aber das hatte ihm ja schon Stephen Saunders prophezeit. Ein bitteres Lächeln schlich sich auf seine Lippen bei diesem Gedanken. Sie alle waren nur kleine Spielfiguren, die nach Belieben hin und her geschoben wurden und jederzeit austauschbar waren.
Und Audrey?
Würde Audrey an seinem Sarg stehen? Aber warum sollte sie, er war schuld am Tod ihres Mannes, er sah lebhaft die Bilder vor sich als sie auf ihn losgegangen war. Was hätte er tun sollen? Lee Yong sterben lassen, nach allem was er riskiert hatte, um ihn in die Hände zu bekommen?
Seit seinem „Tod“ hatte er kaum eine Nacht richtig geschlafen. Immer wieder sah er die Szenen vor sich, den Einbruch in das chinesische Konsulat, Pauls Tod, Audrey, die wie eine Furie auf ihn einschlug, der Anruf David Palmers. Wie hatte es passieren können, dass sein Leben zum wiederholten Male in nur 24 Stunden völlig auf den Kopf gestellt worden war?
Jack seufzte und griff zur Wasserflasche, die er neben sich gestellt hatte. Jack Bauer war tot. Es hatte keinen Sinn mehr, jetzt noch darüber nachzudenken, er konnte nichts mehr daran ändern. Er musste sehen, dass er einen Job fand, Geld verdiente, er musste akzeptieren, dass er nun Frank Flynn war und seine neue Identität mit Leben erfüllen. Es gab keinen Weg zurück. Er würde den Rest seines Lebens als Frank Flynn verbringen.
Jack zuckte zusammen, als das Handy klingelte.
Tony.
„Jetzt liegst du offiziell unter der Erde,“ stellte Tony sachlich fest.
Jack biss sich auf die Lippe und schluckte. „Wie geht es Kim?“ fragte er mit belegter Stimme.
Tony zögerte. „Nicht so gut.“
Jack nickte. Erst Teri, jetzt er, beide Eltern in der CTU verloren, beide erschossen. Natürlich ging es ihr nicht gut.
„Chase kümmert sich um sie, und Carol.“
„Und Audrey?“
„War auch da. Ich glaube es war zuviel für sie, erst Paul, dann du, beide an einem Tag.“ Tonys Stimme verlor sich. „Ich schicke dir das Bild. Ich muss dann Schluss machen.“
„Danke, Tony.“
Jacks Finger krampften sich um das Handy, als das Bild auf dem Display erschien. Kim, ganz in schwarz, stand zwischen Chase und Carol, Chase stützte sie. Dicht hinter Kim entdeckte er Audrey, bleich, und ebenfalls in schwarz gekleidet.
Jack spürte einen Kloß im Hals, eine Träne löste sich aus einem Auge, rollte die Wange hinunter. Lange saß er dort und starrte auf das Bild, bis ihm plötzlich bewusst wurde, dass der Akku bald leer sein würde. Jack atmete tief ein. Ein letzter Blick auf Audrey und Kim, dann löschte er das Bild.
Jack Bauer war tot.

Frank Flynn lebte.
         
Zurück